75 Jahre VSLF

100 Jahre organisiertes Lokpersonal 1876-1976, davon 75 Jahre als autonome Gewerkschaft VSLF.

Die folgenden Texte stammen aus der Jubiläumsbroschüre:

Wir möchten festhalten, dass gewisse Textstellen nicht der aktuellen Verbandsphilosophie entsprechen und im geschichtlichen Zusammenhang zu sehen sind.

Der Vorstand VSLF
15. Januar 2005

Vorwort des Verfassers

Am 7. März 1976 feiert der VSLF im Rahmen einer Jubiläums-Generalversammlung im «Congress Center» des Hotels «International» in Zürich das 100jährige Bestehen einer schweizerischen Lokomotiv-Personal Organisation. Anlass genug, um die - wie sich zeigte - bewegten Jahre in einer Broschüre zusammenzufassen zu einem Nachschlagewerk, das jedem Interessierten Gelegenheit bieten soll, die Entstehung der heutigen Situation beim schweizerischen Lokomotivpersonal zu verfolgen. Zum besseren Verständnis einerseits und um Lehren daraus ziehen zu können andererseits.

Ich habe mich redlich bemüht, den Werdegang möglichst aus unvoreingenommener Sicht darzustellen, wobei ich besonders hervorheben möchte, dass dieses Werk keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben will und kann. Ich habe im Rahmen des Möglichen versucht, das Wichtige vom Unwichtigen oder weniger Wichtigen zu trennen, immer mit dem Bewusstsein, dass man sich selbstverständlich über die Auswahl streiten könnte. Da allein mir die Verantwortung über die Gestaltung und Formulierung dieser Texte sowie den Aufbau des Inhalts aus Stapeln von alten Akten und Bergen von Schriftstücken übertragen war und die zur Verfügung gestandene Zeit relativ kurz war, möchte ich an dieser Stelle zum voraus um Nachsicht bitten, falls mir eine wichtige Begebenheit oder ein Name, der einer Würdigung bedurft hätte, durch die Maschen des Netzes geschlüpft sein sollte. Letzten Endes hängt ja das Image eines Verbandes nicht allein von einzelnen Namen ab, sondern der Name VSLF wird von jedem einzelnen Mitglied mitgeprägt.

Wenn ich mir eine kurze persönliche Schlussfolgerung aus der in diesem Heft dargelegten Geschichte erlauben darf, so möchte ich folgende Erkenntnis hervorheben: Das sich wie ein roter Faden durch die 100 Jahre ziehende stetige Trennen und Wiedervereinen charakterisiert das Lokomotivpersonal als eine schwer zu einigende und schlecht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringende Berufskategorie. Dies kommt wohl nicht von ungefähr. Der Lokomotivführer ist von seiner Berufsausübung her ein Individualist. Seine unvergleichliche, spezifische Arbeit kennt keine Parallelen, und seine Leistungen sind nicht direkt messbar. Durch seine handwerkliche Grundausbildung und seine spätere Entfremdung von seinem gelernten Beruf mit dem gleichzeitigen Aufstieg in eine höhere Besoldungs- und damit auch gesellschaftliche Stufe verliert er je nach Weltanschauung seine Orientierung und ist unschlüssig, welche Richtung er nun einschlagen soll. Kein Wunder, dass die Hauptstreitpunkte bei allen Zwistigkeiten in den eigenen Reihen stets dieselben waren, nämlich die Frage nach dem politischen Standort, die Kontroverse für oder gegen den autonomen Status seiner Vereinigung, die Höhe der Gehaltsforderungen sowie die Interessenkollisionen der jungen mit der älteren Generation. Die Geschichte hat in eklatanter Form bestätigt, dass das Lokomotivpersonal zusammen mit anderen Berufskategorien unter keinen gemeinsamen Hut passt. Der Lokomotivführer benötigt eine Berufsvereinigung, die eine spannweite besitzt, die die weitgesteckten verschiedenen Interessen inner- halb der eigenen Kategorie zu umfassen vermag. Diesen Ansprüchen vermag nur ein konfessionell und politisch neutraler und vor allen Dingen ein autonomer Verband zu genügen, so wie ihn der VSLF heute repräsentiert.

Doch die Existenz eines Berufsverbandes allein genügt nicht, es braucht dazu auch die nötige Energie und Anstrengung, um die berechtigten Ansprüche und Begehren durchsetzen zu können. Jede Position muss mit allen zur Verfügung stehenden gewerkschaftlichen Mitteln errungen und verteidigt werden. Ohne Kampf kein Pre1s. Das hat das Lokomotivpersonal im besonderen und auf schmerzliche Weise erfahren. Auf welche Art operiert wird, ist unwesentlich. Das Resultat ist letztlich wichtig, nicht die Wahl der Mittel, sofern diese legal sind und auf dem Gesetz der Ethik basieren. Seit der Wiedergründung des VSLF ging es beim Lokomotivpersonal wieder aufwärts. Zugegeben, die Hochkonjuntur steuerte das Ihre bei. Aber dennoch: Ohne Saat keine Ernte.

Mein Einsatz zur Erstellung der vorliegenden Schrift wurde einerseits vom Wunsch beflügelt, allen voreingenommenen Gegnern des VSLF die Motivation darzulegen, die zur Spaltung beim Lokomotivpersonal führte, ja zu beweisen, dass die Initianten buchstäblich zu diesem Schritt gezwungen wurden, andererseits den jungen Kollegen eine umfassende Chronik in die Hand geben zu können, die es in eindrücklicher Weise ermöglichen soll, eine Antwort auf ihre berechtigte Frage geben zu können, warum sich das Lokomotivpersonal gewerkschaftlich zersplitterte. Sollte mir das mit dieser Festschrift gelungen sein, werte ich das nicht als einen persönlichen Erfolg, vielmehr gebe ich der Hoffnung Ausdruck, die gewonnenen Erkenntnisse lind das daraus hervorgehende Verständnis wirke heilsam und befruchtend auf das gesamte Lokomotivpersonal.

Erich Wyss

Zum Geleit

Er war der absolute König, der erste Mann auf dem Dampfross. Er verdiente mehr als der Präsident der Eisenbahn, für die er fuhr; er bezog sozusagen eine Gage. Er herrschte über dieses Ungetüm, und er beherrschte es auch, das Ungeheuer, von dem viele glaubten, damit sei der Anfang vom Ende gekommen. Tatsächlich war dieser Anfang nur ein bescheidener, und auch heute, 140 Jahre nachher, ist das Ende noch nicht abzusehen.

Als die Lokomotivführer dann zunehmend während der Arbeit Zylinder und Frack ablegten, war es auch mit dem Königtum vorbei. Vermutlich aber war es gerade umgekehrt; der König wurde entthront, denn immer mehr Könige werten einander ab. Was für einen Umfang diese Abwertung erfahren hatte, beweist der im Jahre 1876 erfolgte Zusammenschluss im «Verein Schweizerischer Lokomotivführer, VSLF".

Nur 100 Jahre sind es seitdem her, und doch können wir kaum ermessen, wie viel Mut dieser Schritt für den Einzelnen bedeutete in der Zeit des 16-Stunden-Tages und dem Höhepunkt der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Das war eine wahrhaft königliche Leistung; diese Männer hatten etwas von ihrer Würde in die andere Zeit hinübergerettet.

Darauf folgte eine in jeder Beziehung stürmische Zeit. Der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen begann. Ebenso kam es bald zu Bestrebungen für einen Schulterschluss mit anderen Eisenbahnerkategorien, die sich unterdessen auch organisiert hatten. Diese Verhandlungen, Zusammenschlüsse und darauf folgende Trennungen verliefen nicht weniger stürmisch als die Forderungen an die unnachgiebigen Aktionäre.

Unsere heutigen Arbeitsbedingungen haben sich, rein äusserlich gesehen, gewaltig gebessert, jedoch wird die Arbeitsintensität derart auf die Spitze getrieben, dass es immer dringlicher wird, zu prüfen, ob die jetzigen Anforderungen tatsächlich weniger hart sind als die früheren. Jedenfalls sind die Gewerkschaften heute wie damals ein dringendes Bedürfnis. Ohne sie wären die Arbeitsbedingungen, die Löhne, die Freizeit um kein bisschen besser geworden als früher. Wer glaubt, der Arbeitgeber wäre von sich aus humaner geworden, der täuscht sich gewaltig. Es sind ununterbrochene Anstrengungen notwendig, um nur die kleinsten Verbesserungen erzwingen zu können. Jede Verbesserung, jede, entstand nur unter hartnäckigem Zwang.

Dennoch brachte es das Lokomotivpersonal nie über längere Zeit fertig, sich zu einem Block zusammenzuschliessen. So feiert denn der VSLF allein, neben dem LPV/SEV und der GCV, in diesem Jahre die 100 Jahre zurückliegende Gründung des Verbandes Schweizerischer Lokomotivführer und Anwärter, da er sich nach 25jähriger Integration im LPV/SEV, im Jahre 1957, wiederum selbständig machte. Dj,3 dafür verantwortlichen Gründe sind in unserer Festschrift eindrücklich zusammengefasst.

Seltsamerweise hat die dreiteilige Spaltung dem Lokomotivpersonal nie unmittelbar geschadet. Im Gegenteil darf festgestellt werden, dass gerade die dritte Abspaltung im Jahre 1957, also der neuerliche Zusammenschluss im VSLV, den beiden anderen Lokomotivpersonalorganisationen, besonders dem massgebenden LPV/SEV, neue Impulse und Auftriebe aufgezwungen hat. Es entstand hauptsächlich zwischen den beiden letztgenannten Organisationen eine gewisse Konkurrenzsituation, die das eingeschlummerte Selbstbewusstsein im LPV neu weckte. Die Aktion wurde automatisch wiederum in die Sektionen getragen und nicht mehr teilnahmslos einigen Funktionären überlassen - die sich nicht sonderlich um die Wünsche ihrer Mitglieder kümmerten, da sie von dort ja auch nur spärliche Impulse erhielten und zudem besonders genau auf die Politik der Geschäftsleitung ausgerichtet waren.

Das ist eine Tatsache, die heute von massgebenden Funktionären unumwunden bestätigt wird. Und wirklich wurden, gerade in den letzten Jahren, einige sehenswerte Verbesserungen zugunsten des Lokomotivpersonals erzielt, wobei selbstverständlich auch andere Kategorien davon profitierten. Wenn wir auch nicht die verhandelnde Partei waren - was auch nicht ins Gewicht fällt -, dürfen wir doch schmunzelnd feststellen, wie in überwiegendem Masse unsere Ideen verwirklicht wurden. So hört man denn oft die Meinung, jetzt wäre es Zeit, unseren Schritt von 1957 rückgängig zu machen. Wir sind uns der positiven Folgen bewusst, schlösse sich das gesamte Lokomotivpersonal zu einer einzigen Organisation zusammen. Jedoch scheint uns der Einheitsverband nicht das richtige Instrument dazu zu sein. Eine solche Organisation kann den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Berufskategorie nicht im wünschbaren Masse entgegenkommen. Dass jedoch solche sehr auseinandergehende Bedürfnisse vorhanden sind, ergibt sich zwangsläufig aus der vielfältigen Struktur des Arbeitsplatzes, der Arbeitsschichtung, den Anforderungen der Arbeit, der körperlichen Beanspruchung und vielem anderen mehr. Obschon für gewisse Forderungen das umfassende Vorgehen einzig erfolgversprechend ist, sind wir überzeugt, die Massenorganisation sei nicht richtig. Hier wird und muss alles über einen Leisten geschlagen werden. Die Gefahr ist sehr gross, dass ein kleines Gremium die gesamte Aktion an sich reisst und letzten Endes einfach verfügt, denn die sogenannten demokratischen Spielregeln können bei einiger Handhabung auch überspielt werden. Die Organisation muss aber letzten Endes von jedem Einzelnen mitgetragen werden. Je umfangreicher diese aber wird, desto höher wird die Gefahr des Verschwindens des einzelnen Individuums und damit der Aktion aus den Wurzeln heraus. Wo diese Kraft aber nicht mehr vorhanden ist, wird sie im entscheidenden Moment auch fehlen. Entweder ist dann die Organisation kraftlos, oder es wird manipuliert. Solche Entwicklungen zu verhindern, liegt in der Macht der reinen Berufsorganisation. Das Interesse des Einzelnen wird wachgehalten durch den Zwang, etwas tun zu müssen, sich für seine Sache einzusetzen, weil er sich auf sich selbst gestellt sieht. Der Verein wird lebendig; er lebt. Nur viele eigene und gesunde Wurzeln können den Baum am Leben erhalten, so wie wir und alle es sich wünschen. Der junge VSLF hat das bis zum heutigen Tage bewiesen, indem er wirklich lebendig blieb und die Aktion weit über seinen Kreis hinaustrug.

Karl Dardel
Verbandspräsident

(Karl Dardel war von 1967 – 1976 Verbandspräsident)