Neugründung VSLF

100 Jahre organisiertes Lokpersonal 1876-1976, davon 75 Jahre als autonome Gewerkschaft VSLF.

Die folgenden Texte stammen aus der Jubiläumsbroschüre:

Wir möchten festhalten, dass gewisse Textstellen nicht der aktuellen Verbandsphilosophie entsprechen und im geschichtlichen Zusammenhang zu sehen sind.

Der Vorstand VSLF
15. Januar 2005

Die Wiedergründung des VSLF im Jahre 1957

Die Vorgeschichte

Wenn im vorhergehenden Abschnitt davon die Rede war, das Lokomotivpersonal sei während 25 Jahren vereint gewesen, so muss doch gerechterweise darauf hingewiesen werden, dass dies in einer Hinsicht nicht stimmt, denn neben dem SEV existiert noch ein zweiter, strukturell ähnlich wie der SEV aufgebauter Eisenbahnerverband, der «Verband der Gewerkschaften des christlichen Verkehrs- und StaatspersonaIs» (GCV), worin ebenfalls ein Unterverband der Lokomotivführer mit zirka 350 Mitgliedern integriert ist. Die GCV ist auf rein konfessioneller Grundlage aufgebaut, so dass sich damit zusätzlich zur politischen Entzweiung noch eine durch verschiedenartige Glaubenszugehörigkeit bedingte gewerkschaftliche Spaltung vollzog. Die GCV hatte es immer schwer, aus dem Schatten anderer Verbände zu treten, war es doch manchmal schwierig, die konfessionell-politischen Richtlinien mit den erforderlichen gewerkschaftlichen Aktionen in Einklang zu bringen, was sich vielleicht, im gesamten betrachtet, nicht sehr positivauf eine konsequente gewerkschaftliche Linie auswirkte. Als Alternative kam jedenfalls die GCV für die unzufriedenen Mitglieder im LPV/SEV nicht in Frage.

Die 25jährige Integration des VSLF im LPV/SEV kann man aus heutiger Sicht so quasi als Bewährungsprobe des Einheitsverbandes gegenüber dem Lokomotivpersonal bezeichnen. Wenn man die Ver- sprechen und die Beschwörungen bedenkt, mit denen dem Lokomotivpersonal der Einheitsgedanke. schmackhaft gemacht wurde, so hätten die 25 Jahre für das Lokomotivpersonal wesentlich anders verlaufen müssen. Diese Ansicht vertraten jedenfalls mehrere Lokomotivführer zu Beginn der fünfziger Jahre, die die Entwicklung beim Lokomotivpersonal kritisch unter die Lupe nahmen. Eine fortschreitende finanzielle Nivellierung des Lokomotivführers gegenüber anderen Kategorien stand in krassem Gegensatz zu den allgemeinen Leistungssteigerungen infolge vermehrter Kilometerleistung, Verkürzung von Vor- und Nacharbeitszeiten infolge Elektrifikation, Ausdehnung des Einmanndienstes usw. Die Spitze der Opposition richtete sich zuerst gegen die Sektionsvorstände im LPV/SEV, die ihrerseits das Unbehagen in den Zentralvorstand hineintrugen. Anfänglich schenkte man dort dieser Bewegung nicht die nötige Aufmerksamkeit, und als sie auch im Verbandsvorstand SEV kein Gehör fanden, fing es im Lokomotivpersonalkörper gehörig zu rumoren an. Lesen wir nachstehend den ziemlich authentischen Bericht über jene Zeit, wie er im «Lokomotivführer» Nr. 2/64 unter dem Titel «Beweggründe einer Entscheidung, die zum Wiederaufbau des VSLF führte» veröffentlicht wurde:

«Trotz der beständigen Ausdehnung des Einmannsystems auf den Triebfahrzeugen und den zunehmenden Verantwortlichkeiten des Lokomotivführers, begann für ihn von dieser Zeit an die fortschreitende soziale Nivellierung nach unten. Die gewerkschaftliche Verantwortung für diese Entwicklung lag ab 1932 einzig und allein beim LPV/SEV. Die fortwährende politische Beeinflussung nahezu aller Versammlungen und Veranstaltungen des LPV waren der gewerkschaftlichen Sache des Lokomotivpersonals ebenfalls nicht förderlich. In vielen LPV-Sektionen ist man soweit gekommen. das Eintreiben der Gewerkschafts- und Unterstützungsbeiträge, politischen Werbegelder, Russlandhilfe usw. von den Organen der Dienststellen. durch Verrechnung und Abzug an der Lohnauszahlung besorgen zu lassen. Wer wollte sich da noch wundern, wenn sich anfangs der fünfziger Jahre deutliche Anzeichen einer Vertrauenskrise einzuschleichen vermochten. Die mangelhaften Verbindungen und Orientierungen des Zentralvorstandes des LPV mit der Mitgliederschaft waren für unsere Gewerkschaft sehr nachteilig. Auch der Einmanndienst ist, seiner Struktur wegen. dem gewerkschaftlichen Zusammenhalten nicht besonders förderlich. Die Sektionen Zürich und Luzern suchten deshalb im Jahre 1952 durch die Herausgabe eines Mitteilungsblattes der Vertrauenskrise zu begegnen. Diese Begehren fanden leider. trotz den zustimmenden Sektionsbeschlüssen, kein Gehör im Zentralvorstand LPV und ebensowenig im Verbands- vorstand SEV (Versammlung der Sektion Zürich LPV vom 13. September 1952). ( . . . ) Im Jahre 1953 verschlimmerte sich die Lage zusehends. Von mehreren Sektionen wurde energisch eine schweizerische Lokomotivpersonal-VersammIung verlangt.»

An der Delegiertenversammlung des LPV vom 25. Juni 1953 in Lausanne beschlossen die Anwesenden die Einberufung einer Lokomotivpersonal-Versammlung auf den 5. Juli 1953. Geschickt verhinderten die Funktionäre des SEV-Verbandsvorstandes und der Zentralvorstand des LPV, dass eine beschlussfähige Versammlung zustande kam, indem man, angeblich aus «organisatorischen und sprachlichen Gründen», nur Kreisversammlungen einberief, was eine eklatante Missachtung des verbindlichen Beschlusses der Delegiertenversammlung darstellte. Die Kreisversammlung der Deutschschweizer Kollegen fand am 22. November 1953 in Bern statt. Zitieren wir dazu weiter den Artikel aus dem «Lokomotivführer» Nr. 2/64:

«Rund 1 000 Mann sind damals nach Bern gezogen. Sie alle wollten Auskunft über die gewerkschaftspolitische Lage, die das Lokomotivpersonal im Zusammenhang mit der bevorstehenden Aemterklassifizierung interessierte. Sie wollten sich auch frei und frank zu anderen noch schwebenden gewerkschaftlichen Problemen äussern. Der Vorsitzende hatte anfänglich Mühe, die erhitzten Gemüter in geregelte Bahnen zu lenken. Das erste, das man den Anwesenden eröffnete, lautete: ,Die Versammlung sei, gemäss Verbandsstatuten, nicht beschlussberechtigt und habe nur orientierenden Charakter'. Die Versammlung wirkte trotzdem aufklärend und beruhigend. Vollständig überflüssig war das eingeflochtene politische Referat von Nationalrat R. Bratschi über eine eidgenössische Abstimmung über die Finanzvorlage vom 6. Dezember.
Der aufmerksame Beobachter musste in den nachfolgenden Jahren mehr und mehr feststellen, dass der LPV längst aufgehört hatte, eine zweckdienliche Gewerkschaft der Lokomotivführer und Anwärter zu sein. Gar viele Verbandsfunktionäre leisteten sich den unverzeihlichen Fehler, die Initiative vereinzelter Mitglieder oder auch Gruppen als unsympathische Opposition zu bekämpfen. Es war für viele Kollegen einfach unverständlich, dass der Unterverband LPV/SEV die Interessen des Lokomotivpersonals nicht besser wahren konnte. Der LPV hatte in verhältnismässig kurzer Zeit, infolge laufender Missachtung vieler idealer Werte, seine Bedeutung und damit auch seine innere Kraft verloren.

So musste das Lokomotivpersonal seit 1932 bis zum 1. Mai 1957, dem Stichtag unserer Aufzeichnungen, die nachstehenden Massnahmen und Verschlechterungen über sich ergehen lassen, die, wenn anscheinend auch nicht anwendbar, doch ganz ungenügend oder überhaupt nicht aufgewertet wurden.
Stand: 1. Mai 1957

- Pauschalisierung der Nebenbezüge zwecks Senkung der Verwaltungskosten brachte viele Ungerechtigkeiten für das Lokomotivpersonal.

- Verschärfte Alkoholbestimmungen ausser Dienst ab 1. November 1950 waren sicherlich kein Unglück, aber unangenehm und belastend zugleich. Zu allen Zeiten und bei jeder Gelegenheit wurde jedermann unser Kontrolleur.

- Tragzeitverlängerung des Dienstmantels von vier auf sieben Jahre.

- Ausdehung der periodischen Prüfungen von ein auf zwei Tage. Erfahrungsgemäss braucht der Lokomotivführer die Freizeit von sechs bis zwölf Monaten für die Vorbereitungen zu einer periodischen Prüfung. Für viele Kollegen können diese Prüfungen sehr hart sein.

-Aenderung der Amtsbezeichnung ab 1. Januar 1953: Lokomotivführer 1. Klasse in Lokomotivführer I (Kleinigkeiten?).

- Verlust der Ausnahmestellung des Lokomotivpersonals in der Pensionskasse. Der maximale Pensionskassenanspruch war seinerzeit mit 28 Dienstjahren für sich oder zugunsten von Hinterlassenen erreicht. Eine Invalidenversicherung gab es noch nicht.

- Einführung der periodischen bahnärztlichen Kontrollen ab 1944.

-Verschärfte gruppenmedizinische Kontrollen ab 1957. Aus Sorge um die Betriebssicherheit beim Einmanndienst auf Triebfahrzeugen liess sich die Generaldirektion der SBB durch die medizinische Wissenschaft davon Überzeugen, dass an die Lokomotivführer sehr hohe Anforderungen gestellt werden. Die Einführung einer speziellen, wiederkehrenden gruppenmedizinischen Kontrolle wurde zur dringenden Tatsache. (SBB-Nachrichtenblatt 6/56, NZZ vom 13, Februar 1957, Eisenbahner 8/57.) Damit ist das hohe Berufsrisiko unter Beweis gestellt.

- Das Einmannsystem auf Triebfahrzeugen. Mit dem vorgenannten Stichtag sind es rund 30 Jahre her, seitdem die SBB mit der Einführung des Einmanndienstes begonnen haben. Unsere Lokomotivführer erbrachten während dieser Zeit den Beweis, dass das Einmannsystem auf Triebfahrzeugen in personeller und technischer Hinsicht möglich ist. Die erreichten jährlichen Einsparungen (Lok- und rückwärtiger Dienst) sollen im Jahre 1952 bereits die 10-Millionen-Franken-Quote wesentlich überschritten haben (Technische Rundschau 28/53).

- Unbegleitete Züge. Auch diese Möglichkeit ist als ein personeller Erfolg des Lokomotivführers zu verzeichnen. Die Anerkennung und der wirtschaftliche Erfolg gingen in andere Taschen.

- Arbeitszeit und Diensteinteilungen. Es muss gesagt werden, dass damals das Lokomotivpersonal im durchschnittlichen Achtstundentag arbeitete. Vom gewerkschaftlichen Erfolg der 48-Stunden-Woche waren wir weit entfernt! Das Lokomotivpersonal kannte grösstenteils die 8-Arbeitstage-Woche (Zürich: 7- Touren-Woche). Es gab Dienstleistungen, wo 80 bis 90 Stunden zwischen zwe1 Rasttagen gearbeitet werden musste. (Kommentar überflüssig.)

-Teuerungszulagen auf den Nebenbezügen. Die Uebergangsordnung vom 1. Januar 1956 stand unter dem Zeichen einer bewussten Nivellierung zum Nachteil des Lokomotivpersonals (Eisenbahner 7/57).
- Verlust der Ausland-Freifahrscheine 1. Klasse ab 3. Juni 1956. Ein Jahrzehnte überdauertes Recht des Lokomotivführers I, im Ausland in der gleichen Wagenklasse zu reisen wie in der Schweiz, ging verloren. Der Internationale Eisenbahnverband UIC hatte die Verhandlungen und Beschlüsse über die Einführung des Zweiklassensystems vier bis fünf Jahre vor dem Inkrafttreten getätigt und auch veröffentlicht. ( . . . ) Mit diesem Verlust ist dem Lokomotivführer I ein erheblicher und vor allem auch ein moralischer Schaden entstanden.

- Aemterklassifizierung ab 1. Januar 1953. Diese Angelegenheit wurde für das Lokomotivpersonal unbefriedigend gelöst. Der gewerkschaftliche Erfolg mit einer Lohnklasse innerhalb einer Zeitspanne von 25 Jahren mit noch nie dagewesenen Abgeltungsbedingungen von mehr als 50 Prozent der Gehalterhöhung, war für den Lokomotivführer I geradezu niederschmetternd. Zudem brachte das neue Dienstverhältnis eine Verschlechterung der Aufstiegsmöglichkeiten des Lokomotivführers II zum Lokomotivführer I. Die bisherige Ordnung gestattete die automatische Beförderung nach Ablauf von drei Jahren. Die frankenmässigen Verbesserungen reichten kaum mehr für die steigenden Lebenshaltungskosten.

Im Jahre 1957 standen wir alle vor diesem deprimierenden Ergebnis. Es ist kaum zu beschreiben, was das Lokomotivpersonal zwischen den Jahren 1932 bis 1957 in ideeller und sozialer Hinsicht eingebüsst hat.»


Während dieser Zeit war absolut noch nicht die Rede von der Gründung eines neuen Verbandes, sondern es wurde mit allen Mitteln versucht, das Steuer des Schiffes wieder in eine für das Lokomotivpersonal erfolgreichere Strömung zu lenken. Die bereits erwähnte Missachtung des Delegiertenversammlungsbeschlusses zur Durchführung einer schweizerischen Lokomotivführer-Versammlung setzte den damaligen LPV-Zentralpräsidenten Armand Mathys massiver Kritik aus. Er wurde dafür auch zur Rechenschaft gezogen, rechtfertigte sich aber unter Berufung auf die Verbandsstatuten. Es heisst im «Reglement über die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaft, Unterverbandsleitungen und Sektionen» - einer schon 1923 erlassenen internen Vorschrift des Verbandsvorstandes -, dass die Beschlussfassung über gewerkschaftliche Aktionen und deren Durchführung Sache des Gesamtverbandes sei und dass kein Unterverband befugt sei, von sich aus solche Aktionen auszulösen oder vorzubereiten. Der Verbandsvorstand berief sich auf dieses Reglement, als er beschloss, dass keine schweizerische Lokomotivpersonal-Versammlung abgehalten werde, sondern eine beschlussunfähige Kreisversammlung. Diese Missachtung des DV/LPV-Beschlusses - ein für den Zentralvorstand LPV peinliches Vorkommnis - musste nachträglich legalisiert werden. Der Zentralvorstand LPV beantragte daher 1954 schriftlich, die eingangs erwähnten Kompetenzen seien im Statut selber, oder wie er sich ausdrückte, in der Verfassung des Verbandes, zu verankern («Eisenbahner» 23/56). Damit beging der Zentralvorstand LPV einen gemeinen Verrat an seiner Mitgliederschaft. Die Statutenrevisions-Kommission SEV hat die Bestimmungen des angeführten Reglementes wortwörtlich übernommen. Am 18. März 1955 wurde der genaue Wortlaut der neuen Bestimmungen im «Eisenbahner» publiziert. Dadurch wurde der Verbandsvorstand oberstes Organ und nicht mehr die Mitgliederversammlung. Der Zentralvorstand der Unter- verbände konnte inskünftig seine gewerkschaftliche Aufgabe nur noch dann erfüllen, wenn er das Wohlwollen des Verbandsvorstandes geniesst, weil letzterer sich die endgültige Entscheidung vorbehält. Urabstimmungen der Unterverbände dienen nur der Meinungsforschung, da dem Gesamtverband die Beschlussfassung über gewerkschaftliche Aktionen und deren Durchführung zufällt.

Kollege Hans Utzinger startete einen letzten Angriff auf diese uneinnehmbare Festung. Er strebte eine Statutenrevision an, die er bis zum SEV-Kongress im Jahre 1956 verteidigte.