Wie weiter mit ETCS und ATO

Das Ziel von ETCS in der Schweiz war die Einführung eines europäisch standardisierten Zugsteuerungs-, Zugsicherungs- und Signalgebungs-System, das die Vielzahl der bisher eingesetzten, nationalen Systeme ablöst und so einen dichten, schnellen, grenzüberschreitenden und sicheren Eisenbahnverkehr ermöglicht.

Diese Idee wurde vor fast drei Jahrzehnten entwickelt und mit der Einführung der ETCS Baseline 3 ist es Zeit, Bilanz zu ziehen und die verschiedenen Auswirkungen aus heutiger Sicht und mit den heutigen Erfahrungen neu zu beurteilen.

Entscheidend für die Wertschöpfung des Systems für die EVU, und damit für den Leistungsauftrag der Bahnen und deren Eignern, ist eine Beurteilung der folgenden Faktoren:

  • Kosten/Nutzen Rechnung betreffend Ersatz von end-of-life-Systemen bei Stellwerkanlagen und Sicherheitsausrüstungen Infrastruktur und Fahrzeuge
  • Sicherheit
  • Kapazitätspotential, Optimierung der Zugfolgezeiten
  • Stabilität des Bahnbetriebs
  • europäische Interoperabilität für den grenzüberschreitenden Verkehr (Vorgabe Landesmantelvertrag und BAV)

Nachfolgend eine Einschätzung gemäss unseren Erfahrungen.

ETCS Level 2
Die europäische Interoperabilität wurde nicht erreicht. In der Schweiz bestehen für jede Level 2 Linie eigene Vorgaben und Parameter. Mit der Einführung des Ceneri-Basistunnels erhöht sich die Vielfalt alleine in der Schweiz auf 5 verschiedene Systeme.

Der erforderliche Sicherheitsstandard SIL4 (Security-Level 4) wurde durch den Vorfall zwischen Lausanne und Villeneuve wegen Odometrie-Problemen arg geprüft.

Wesentlicher jedoch ist die Tatsache, dass bei Unregelmässigkeiten des Systems Umgehungen notwendig sind, die vom Fahr- und Stellwerkpersonal analog von Hand mit einem sehr tiefen Sicherheitsniveau überbrückt werden müssen.

Dazu gehören sämtliche Nicht-Standard-Betriebsarten wie z.B. Umgehungen, Aufstarten oder Richtungswechsel im Level 2.

Die Vorgaben bei Unregelmässigkeiten umfassen mittlerweile mehrere Bundesordner, was die Beherrschbarkeit der Technik in heiklen Situationen in Frage stellt und auch mit enormem Aufwand an Instruktionen für die Verantwortlichen vor Ort nicht machbar ist.

Bezüglich Erneuerung der Infrastruktur und der Stellwerke, die ihren end-of-life-Zustand bald erreicht haben, stellt sich die Frage, in welche Zukunft investiert werden soll. Der heutige Level 2 erreicht nicht das Kapazitätspotential der heutigen analogen Strecken. Das darauf aufbauende System Level 3, dessen versprochenes Optimierungspotential frühestens in 20 Jahren allenfalls bewiesen werden kann, ist nur mit enormem Kostenaufwand zu realisieren.

ETCS Level 1 LS
Das gesamte Schienennetz mit Aussensignalen wurde auf ETCS Level 1 aufgerüstet, sodass auch mit dem bisherigen System ZUB und Signum sicher gefahren werden kann. Mit der Einführung von Fahrzeugen mit ETCS only (Level 1, Baseline 3) offenbarten sich anfangs Jahr empfindliche Zeitverluste in der Praxis, die sämtliche bisherigen Anstrengungen für einen pünktlichen und stabilen Verkehr obsolet machen. Die geplante Ausweitung ETCS only auf weitere Fahrzeuge wie Re 460 und ICN wird dieses Problem zusätzlich massiv verschärfen.

Auch hier stellt sich die Frage, in welches System investiert werden soll. Dient Level 1 nur als provisorische Zwischenlösung zum Level 2 oder Level 3, oder entpuppt es sich als Providurium auf 95% aller Strecken in der Schweiz, inklusive der damit einhergehenden Kapazitätsschwächungen und Pünktlichkeitsverluste?

Auch die Sicherheit wird mit dem neuen System nicht erhöht, dies wurde uns von Fachleuten bestätigt. Im Gesamtrahmen gibt man sich zufrieden mit einer Annäherung an das heutige Niveau aus teilweisen Verschlechterungen und teilweisen Verbesserungen.

Alleine bei der SBB wären über 300 Triebzüge mit ETCS nachzurüsten. Der Kostenrahmen dafür dürfte weit über 100 Millionen Franken betragen.

ATO (Automatic Train Operation, Zugfernsteuerung)
2016 wurde smartrail 4.0 beauftragt, Versuche mit ATO durchzuführen, um eine wirtschaftliche Lösung für unbemanntes Fahren (GoA [Grades of Automation] 3+4) zu erarbeiten. Die Lokführer, und vor allem auch Personen, die an diesem Beruf Interesse gehabt hätten, erinnern sich nur zu gut an die verschiedenen Kommunikationen der Bahnen, wie die Zukunft digital und führerlos sein wird.

Mittlerweile ist klar, dass ein unbemanntes Fahren unter gewissen Voraussetzungen zwar technisch möglich, aber aus betrieblicher und finanzieller Sicht keinen Sinn macht und erhebliche juristische Risiken beinhaltet. Was heute bei einer U-Bahn in einem abgeschlossenen System, mit einheitlichem Wagenmaterial und harmonisierten Geschwindigkeiten funktioniert, ist auf das Normalspurnetz der Schweiz mit Mischbetrieb nicht annähernd umsetzbar.

Übriggeblieben sind bemannte ATO-Versuchsfahrten (GoA 2) im ETCS Level 1 und 2 bei der SOB und auf der Linie Lausanne–Villeneuve SBB. Offenbar dienen diese Fahrten der komplexen Systembeherrschung, da von Europa vorgesehen ist, dass ATO Fahrzeuge über die Grenzen verkehren. Bei bemannten ATO Fahrten fährt der Zug selbständig, aber der Lokführer muss die Fahrt zwingend kontrollieren und bleibt zu 100% verantwortlich für Korrekturen und für die Sicherheit.

Ein finales Ziel GoA 2 macht weder betrieblich noch finanziell einen Sinn, da der Lokführer zwingend anwesend sein muss, um Unzulänglichkeiten des Systems zu korrigieren. Dies wurde so 2016 auch von smartrail 4.0 bestätigt. Zudem löst eine Teilautomatisierung diverse Folgeprobleme wie Langeweile oder Unaufmerksamkeit aus, die auch mit den bereits gestarteten arbeitspsychologischen Projekten wie MTO (Mensch, Technik, Organisation) nicht kompensiert werden können.

Die technikgläubige und naive Kommunikation der Automatisierung damals ist ein Hauptgrund für die heutigen Rekrutierungsprobleme. Der daraus resultierende Mangel an Lokpersonal wirkt sich direkt auf die Stabilität des Bahnbetriebs aus; mit allen bekannten Folgeerscheinungen.

Zudem gibt es mit GoA 2 erwiesenermassen keinen Gewinn bezüglich Sicherheit, Kapazitäten oder Pünktlichkeit. Sollte GoA 2 nur als Zwischenlösung zu der optimistischen Zukunftsplanung GoA 3 oder GoA 4 dienen, muss man sich zumindest fragen, wie die Bahnen bis zum Zeitpunkt einer möglichen Realisierung GoA 3/4 - selbst unter optimistischen Annahmen -, überleben sollen. Die Kapazitäts-, Pünktlichkeits- und Stabilitätsschwächungen des Systems entsprechen weder den hochgesteckten Zielen noch dem heutigen Standard.

Momentan kämpft man mit Lösungen in sehr einfachen Verhältnissen. 

Wie weiter?
Bis Ende April wird das Bundesamt für Verkehr BAV entscheiden, wie es weiter geht. Wir sind uns durchaus bewusst, wie schwierig es in der heutigen kurzlebigen Zeit ist, zukunftsfähige Entscheidungen zu treffen.

Umso mehr plädieren wir für einfachere, aber dafür beherrschbare und stabile Lösungen. In 10 Jahren wird die beste Bahn Europas diejenige sein, die heute auf zuverlässiges Rollmaterial, bewährte Sicherheitseinrichtungen und gut ausgebildetes Personal mit kompetenten Entscheidungsträgern setzen wird. Und auf bezahlbare und wertschöpfende Technik.

Wir verweisen auf die VSLF Newsletter Nr. 598 und Nr. 620.

VSLF Nr. 626, 20. Februar 2020 RG/SG/ME/HG