Zum Jahresabschluss 2020

Corona Jahr / Zweiklassengesellschaft
Die SBB konnte ihren Leistungsauftrag im Jahr 2020 nur dank dem reduzierten Angebot wegen der Corona-Pandemie erfüllen. Ein grosser Event-, Open-Air- und Veranstaltungs-Sommer mit Nacht-S-Bahnen hätte mit dem andauernden Unterbestand des Lokpersonals nicht bewältigt werden können. Aber auch die für die Zukunft wichtigen Ausbildungen litten unter den Beschränkungen der Corona-Massnahmen. Die Organisation der Schulungstage wurde erheblich erschwert und die Praxisausbildung im engen Führerstand verursachte bei vielen Lokführern Bedenken.

Während man sofort umfassende Schutzmassnahmen für das Personal in den Büros organisierte, wurde das Basispersonal trotz unklarer Lage der Ansteckungsgefahr ausgesetzt und angewiesen, den Betrieb wie immer weiterzuführen. Um die Aufrechterhaltung des Betriebes nicht zu gefährden, versuchte man anfänglich sogar vertraglich festgehaltenen Arbeitszeitregelungen auszuhebeln.
Ohne Information der Sozialpartner, wurde zudem durch die Systemführer Postauto und SBB beim BAG beantragt, die Quarantänezeit für Chauffeure und Lokführer zu verkürzen oder aufzuheben.

Passend zu dieser sich etablierenden Zweiklassengesellschaft-Mentalität haben mittlerweile viele, im Homeoffice arbeitende Angestellte ihre Ferien entgegen den Konzern-Vorgaben ins 2021 verschoben. Währenddessen hat das Front-Personal seine Arbeitskraft flexibel und konzernorientiert organisierte und den teilweisen Abbau von Zeitkonten wegen Leistungsausfällen selbstverständlich auf eigene Rechnung gemacht.
In der Nachbearbeitung wird zudem beim systemrelevanten Personal um jede Minute gefeilscht, während der Leistungsausweis im Homeoffice mutmasslich als immer voll erfüllt gilt.

Die stets wechselnden Empfehlungen und Anweisungen des BAG werden mit Mikromanagement des Basispersonals bewirtschaftet. Die Empfehlung der Konzernleitung SBB, «sich nicht mit Kolleginnen und Kollegen in der Pause treffen … da sehr oft die Distanzregeln nicht eingehalten und die Masken wegen der Konsumation nicht getragen werden», heisst in die Praxis übersetzt, dass die Pausen auf dem Perron zu verbringen sind und sich dort auch verpflegt werden soll. Mittlerweile wurden die Restaurants in den Bahnhöfen geschlossen, sowie die Öffnungszeiten in den Verkaufsgeschäften wieder stark eingeschränkt. Dem arbeitenden Personal bleibt oft nichts anders übrig, als das Essen und Trinken von zu Hause mitzunehmen. Gleichzeitig macht sich die SBB Sorgen, dass an der Hilfikerstrasse nicht mehr alle gleichzeitig ihr Mittagessen fassen können.

Wir leben definitiv in zwei Welten.

Nicht einmal die jährlichen Weihnachts-Aktionen der Personalverbände in den Personalzimmern wurden verschont. Aus Angst vor Nährboden für Viren wurden sie kurzerhand verboten, obwohl nur eingepackte Nüssli und Schöggeli - wie in jedem Lebensmittelladen erhältlich - angeboten wurden.
Würden die tatsächlichen Ansteckungsherde mit demselben Elan bewirtschaftet, wie beispielsweise die Führerstände mit stündlich wechselndem Personal, müsste sich der Konzern weniger Gedanken machen über die fehlende Akzeptanz der Massnahmen, die sich im Praxisbetrieb nicht umsetzen lassen.

Es ist klar, dass auf diesem Nährboden das Verständnis für Sparmassnamen nicht wächst.

Mit dem Auto zur Arbeit
Der VöV informierte, dass das Velo für öV-Mitarbeiter auf dem Weg zur Arbeit und zurück nicht mehr unentgeltlich mitgenommen werden darf. Damit werden viele Angestellte, die ausserhalb der öV-Zeiten arbeiten gezwungen, vom Velo auf das Auto umzusteigen. Ausser sie leisten sich eine Velo-Jahreskarte, die wie auch das Auto selbst finanziert werden muss.
Während die zu üblichen Bürozeiten arbeitenden FVP-Besitzer, wie zum Beispiel die Mitarbeitenden im VöV, ihren Arbeitsweg vollständig bezahlt bekommen, wird das unregelmässig arbeitende Personal einmal mehr abgestraft, wenn sie einen Beitrag zur Erreichung von vollmundig angekündigten Klimazielen wie Energie-Nachhaltigkeit und CO2-Neutralität leisten. 
Als Grund für diese Massnahme wird die fehlende Überprüfbarkeit angegeben, ob sich der Mitarbeiter tatsächlich auf der Fahrt zur Arbeit oder zurück befindet. Das Problem ist also rein verwaltungstechnisch, es gab bisher weder Engpässe noch finanzielle Einbussen.
Der Schaden für die Unternehmen wird aber gross sein, wenn zukünftig mehr Parkplätze bei den Bahnhöfen zur Verfügung gestellt werden müssen, damit das Personal zu ihrem Arbeitsplatz kommt.

Verhandlung Sparmassnahmen SBB Cargo AG
Der ursprüngliche Auslöser für die Verhandlungen über Sparmassnahmen waren die diesjährigen Einbussen wegen den Corona-Massnahmen. Neben den Forderungen der SBB wurde von Cargo zusätzlich verlangt, dass nur ein Teil der entstandenen Minus-Stunden nach GAV aufgefüllt und in das neue Jahr übertragen werden sollen. Anfang Dezember informierte das BAV, dass SBB Cargo AG bis zu 35 Millionen Franken für genau diese Einbussen im Verkehr erhält, die auf Covid-19 zurückzuführen sind.
Um den Direktor des BAV zu zitieren: «Keine andere Branche konnte von einer so weitgehenden Übernahme der finanziellen Risiken durch die öffentliche Hand profitieren. Dies zeigt das hohe Vertrauen, welches der öV in der Bevölkerung und in der Politik geniesst.»

Von Seiten VSLF sind wir davon ausgegangen, dass nach dieser Information des Bundes keine weiteren Diskussionen über Sparmassnahmen mehr notwendig sind.
Trotzdem waren wir bereit, weiter über Möglichkeiten und Lösungen zu verhandeln, um unseren Teil für die schwierige Zeit zu leisten. Wir haben aber darauf bestanden, dass allfällige Sparmassnahmen für den gesamten Konzern und alle Mitarbeiter gleichermassen angewendet werden müssen.
Die Gespräche machten leider oft den Eindruck, dass die Gelegenheit genutzt werden soll, um beim Personal trotzdem etwas einzusparen, da das Defizit nicht annähernd mit den Geldern vom Bund gedeckt werden kann.
Aktuell sind die Gespräche beendet und SBB Cargo hat das Schiedsgericht angerufen. Zu den Sparmassnahmen bei der SBB verweisen wir auf VSLF - NL Nr. 657.

Digit by Digit
Wieder einmal wurde versucht, ein Kommunikationssystem aus der Flugbranche 1:1 in der Bahnwelt einzuführen, und wie immer konzentrierte man sich mehr auf eine abbildbare Systematik anstatt auf Inhalte. 
Die Auswirkungen sind verheerend; selbst einfachste Kommunikationen führen zu Missverständnissen im sensiblen sicherheitsrelevanten Bereich. 
Die fehlende Akzeptanz des Personals hat nichts mit der Angst vor einem Kulturwandel zu tun, sondern mit Fachkenntnis.

Die Erfahrungen mit den neuen «Sammelformular Befehle» sind genauso negativ. 
Die Kombination mit Digit-by-Digit führte bereits zu sicherheitsrelevanten Fehlern und massiven Verzögerungen im Bahnverkehr. In der Praxis wird die Abgabe eines Sammelformulars so oft als möglich bewusst vermieden, um den Betrieb aufrecht zu erhalten.

So führen fachfremde Sicherheitsvorgaben zu einer Verminderung der Sicherheit. Ein Klassiker.

Die Probleme wurden Ende November in einer Aussprache zwischen dem BAV, den Bahnen und der Branche in der Kommission Sicherheit Eisenbahnen «BAV KOSEB» besprochen. Wie zu erwarten war, entzieht sich das BAV der Verantwortung und verweist auf europäische Vorgaben.
Dem Produktivitäts- und Sicherheitsverlust soll mit einer Kommunikation an das Personal begegnet werden, mit detaillierten Anweisungen, wann und wo die Vorgaben eingehalten werden müssen, und wo Spielraum besteht. Sprich neuen Regelungen. Wir befürchten, dass diese bürokratische Überregulierung mangels praxisorientierter Umsetzbarkeit zu weiteren Verlusten bezüglich Sicherheit und Pünktlichkeit führen wird.

Unregelmässigkeiten bei den Finanzen im öV
Die BLS hat über mehrere Jahre die Halbtax-Abos im Libero-Verbund nicht budgetiert und somit zu hohe Abgeltungen im Umfang von 43,6 Mio. Fr. erhalten. Der BLS CEO Bernard Guillelmon trat in der Folge zurück und der VR Präsident Rudolf Stämpfli hat aus gesundheitlichen Gründen sein Amt zur Verfügung gestellt.
Den Verkehrsbetrieben Luzern (VBL) wird vorgeworfen, unrechtmässige Gewinne erzielt und diese gegenüber den Bestellern nicht ausgewiesen zu haben; es wurden 16 Mio. Fr. zurückgefordert. Die Stelle des Direktors der VBL ist aktuell ausgeschrieben.
Das BAV hat gegen die BLS und VBL Strafanzeigen eingereicht. Es wirft den Unternehmen Betrug im Zusammenhang mit ÖV-Abgeltungen vor und verlangt Strafzinsen.
Auch beim BAV wurden aufgrund von Fehlern in den Datenbanken Transportmengen nicht korrekt registriert und folglich Rückforderungen gegenüber Anschlussgleisbetreibern nicht geltend gemacht. Mittlerweile hat sich bestätigt, dass ein finanzieller Schaden von 1,5 Mio. Fr. für den Bund entstanden ist. Ein strafrechtliches Verfahren ist eingeleitet worden.

Die Zunahme der Enthüllungen lassen befürchten, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass strukturelle Probleme bestehen. Das Vertrauen in den öV steht auf dem Spiel.

Unsere Hoffnungen und Wünsche für das kommende Jahr 2021
Der Wert eines GAV stellt sich in Frage, wenn durch kurzfristige Sparmassnahmen nachhaltige Lohn-Einbussen generiert werden und diese stets durch die Schwächsten getragen werden. Dieser Trend muss unterbunden werden. 
Raoul Müller, Vorstand SBB P

Es ist Zeit, dass wir uns auf unser Kerngeschäft konzentrieren: Eine einfache und preiswerte Eisenbahn. 
Marc Engelberger, Vorstand Westschweiz

Güterverkehr gehört auf die Schiene und dort gelten Eisenbahn-Normen.
Martin Geiger, Vorstand SBB Cargo

Dank der steigenden Mitgliederzahlen und einer guten Organisation können wir in Verhandlungen die Stimme der Lokführer immer besser einbringen.
Tobias Früh, Vorstand Kassier

Dank den neuen CEO’s ist die Chance da, Synergien zu nutzen und durch Vereinfachungen besser zu werden.
Andreas Jost, Vorstand BLS

GAV Verhandlungen bringen nichts, wenn durch mangelhafte Ausbildung die Lokführer nicht sinnvoll und multifunktional eingesetzt werden können.
Daniel Ruf, Vorstand GAV / AZ

Die Zeit der Leerläufe ist vorbei, und das ist gut so.
Hubert Giger, Präsident VSLF

Wir wünschen allen ein gutes 2021. Auf dass es besser wird.
Der Vorstand VSLF 
 
VSLF Nr. 658, 31. Dezember 2020, HG