Steigerung der Sicherheit durch Kündigungsandrohung?

SBB Cargo hat gegen einen jungen Lokführer fünf Monate nach der Probefahrt eine Kündigungsandrohung ausgesprochen. Die Vorwürfe an ihn sind drei ZUB-Zwangsbremsungen, fehlende Dokumente zur Zugsuntersuchung bei der Abfahrt, Manometerbremsprobe anstelle einer Zusatzbremsprobe (das Stellwerk meldete den Zug fahrbereit) sowie das Mitführen einer Person im Führerstand.

Trotz Einsprache gegen die Kündigungsandrohung und Aussprache mit der Einsprache-Instanz, bestehend aus HR sowie Recht und Compliance RC, wurde an der Kündigungsandrohung festgehalten.

Ablauf
Auf dem Weg zur Kündigungsandrohung hielten weder HR noch die Linie oder Recht und Compliance RC die vorgesehenen Prozesse ein.

Das Reglement K 207.0 «Einschätzung von Mitarbeitern nach sicherheitsrelevanten Unregelmässigkeiten» mit der dazugehörigen «Fairness Guide Line SBB» wurde nicht angewendet und hatte keinen Einfluss auf die Beurteilung des Lokführers.

Im gesamten Prozess der Beurteilung der Vorkommnisse war QSU/SP nicht involviert, womit einzig die Linie zusammen mit HR zuständig war.

Es wurde keine Zielvereinbarung, sondern direkt eine Kündigungsandrohung ausgesprochen, was gemäss Reglement K 207.0 nur bei Grobfahrlässigkeit oder im Sinne von «nicht tolerierbarem Verhalten» gemäss der Fairness Guideline SBB möglich ist. («Nicht tolerierbares Verhalten»: Schaden beabsichtigt oder voll in Kauf genommen, bewusste Fehlhandlung aus Bequemlichkeit, sorgloses, leichtsinniges Handeln «mit System».) Wenn ein Lokführer seine Arbeit in diesem Sinne ausführt, wäre sein Einsatz im Fahrdienst zu überprüfen.

Für unterstützende Massnahmen der Personalführung besteht mit der Zielvereinbarung ein gutes Mittel dazu. Eine Kündigungsandrohung für Lokführer, bei welchen jede Handlung sicherheitsrelevant ist, ergibt in sich keinen Sinn. Entweder man vertraut dem Lokführer weiterhin sicherheitsrelevante Tätigkeiten an und gibt ihm die Möglichkeit, seine Fehler zu korrigieren (Zielvereinbarung), oder man vertraut ihm nicht mehr (K 207.0: Kündigungsandrohung); dann wäre es aber seitens Unternehmen fahrlässig, ihn weiter fahren zu lassen.

Prozesse bei SBB Cargo
Dass die Abfahrt des Güterzuges ohne Zuguntersuchung im beschriebenen Fall überhaupt möglich war, offenbart die Lücken im Sicherheitsnetz der Prozesse bei SBB Cargo. Wer trägt die Verantwortung dafür und wird entsprechend belangt? Für SBB Cargo ist der Fall mit der Kündigungsandrohung erledigt. Dies offenbart einmal mehr das komplette Fehlen der oft zitierten «Just Culture», welche nicht auf Bestrafung basiert, sondern Schwachstellen im System sucht, die zu den Vorfällen geführt haben.

Aussagen zur Arbeitsausführung durch das Lokpersonal
SBB Cargo äussert sich in der Begründung zur Aufrechterhaltung der Kündigungsandrohung: «In einem derart komplexen und sicherheitsrelevanten Bereich wie dem Führen von Güterzügen hat eine individuelle Auslegung von Vorschriften nach eigenem Gutdünken jedoch keinen Platz. Vielmehr ist strikte Prozesstreue erforderlich, da sich alle Beteiligten im System darauf verlassen können müssen, dass jeder seine Aufgabe korrekt durchführt und die Vorschriften einhält.»

Diese Aussage ist nach unserer Auffassung bei den täglichen Abläufen im Bahnbetrieb nicht umsetzbar. Das ausführende Personal steht immer wieder vor der Situation, Widersprüche pragmatisch aufzulösen, die innerhalb der Regelwerke oder zwischen gelebter Praxis und Theorie entstehen.  Ein buchstabengetreues Beachten sämtlicher Vorgaben aus den unzähligen Regelwerken kann in der Praxis nach GAV SBB Cargo Art. 6 / 2 als Bummelstreik bezeichnet werden (passiver Widerstand).

Es ist eine bedenkliche Entwicklung, dass praxisfremde Abteilungen aufgrund von binären Regeln aus den Reglementen im Nachhinein darüber urteilen, wie Abläufe in der Praxis stattfinden müssten, welche nicht einmal die Linie zu erklären vermag. Dieser Realitätsverlust wird gravierende Folgen nach sich ziehen.

Mit dieser offiziellen Aussage von SBB HR und Recht und Compliance RC ist die schriftliche Vorgabe vorhanden, dass bei der SBB strikte Prozesstreue zwingend erforderlich ist. Damit ist jede/r Lokomotivführer/in vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen nach GAV geschützt, wenn sie/er immer und konsequent alle Vorschriften einhält und bei unklaren oder widersprüchlichen Vorgaben sich ungeachtet des Zeitverlusts informiert und absichert. Dafür sind umgehend rund um die Uhr fachkompetente Ansprechpartner neu bereitzustellen und zu benennen, welche die Verantwortung übernehmen. Zugsverspätungen und Zugausfälle sind in Kauf zu nehmen.

VSLF Nr. 668, 11. März 2021 HG/FT