Teilautomatische Züge bei der S-Bahn Hamburg

In der Hansestadt Hamburg wurde am 12. Oktober 2021 die erste «hochautomatische» S-Bahn als Weltpremiere gefeiert. Da der Betrieb nicht vollautomatisch ist, wird er als «hochautomatisch» bezeichnet.

Technisch funktioniert die Sicherung der Züge mit ETCS Level 2 und das Niveau der Automatisierung der Fahrt entspricht ATO (Automatic Train Operation) GoA (Grade of Automation) Niveau 2. Trotz der Komplexität der Technik trägt der Lokführer, also der Mensch, jederzeit die Verantwortung und muss eingreifen können.

ATO GoA 2 bedeutet:

  • der Lokführer ist immer im Führerstand, bedient das Totmannpedal und ist für die gesamte Fahrt verantwortlich
  • der Lokführer löst manuell die ATO Fahrt aus, das Beschleunigen, das Anhalten und die Beachtung der Streckenfreigabe (ETCS / Signale) übernimmt das Fahrzeug

Als Vorteil wird vom Hersteller Siemens aufgeführt:

  • eine deutlich höhere Taktung der Züge und damit eine Erweiterung der Kapazität
  • eine Verbesserung der Fahrplanstabilität
  • einen geringeren Energieverbrauch durch optimierte Fahrprofile

Sämtliche Punkte sind widerlegbar:

  • Da bei der Fahrt das Fahrzeug grundsätzlich Sicherheitsmargen für schlechten Schienenzustand usw. mit einbeziehen muss, ist der Bremsweg länger als bei einer manuellen Fahrt, welche sämtliche äusseren Einflüsse miteinbezieht. Folglich wird die Streckenkapazität vermindert. *)
  • Die Fahrplanstabilität wird durch präzise Planung und Zeitreserven hergestellt, nicht durch die Fahrweise der Züge.
  • Der geringere Energieverbrauch ist, wenn überhaupt, minim. Durch optimale Informationen kann der Lokführer mindestens genauso ökonomisch fahren wie die Software. Zusätzlich kann der Lokführer äussere Einflüsse und Erfahrungswerte mit einbeziehen und höheren Fahrkomfort bieten.

Ökonomischer Sinn

Ökonomisch ist die Fahrt mit ATO GoA 2 nicht zu rechtfertigen, da der Lokführer immer noch anwesend ist. Die höheren Kosten für die technische Ausrüstung werden nicht kompensiert.

Zusätzliche Nachteile sind, dass sich die Konzentration bei automatischer Fahrt nicht aufrechterhalten lässt. Es gibt Überlegungen, dem zu begegnen, indem der Lokführer mindestens die Hälfte der Fahrt selbst fährt. Dies würde wieder sämtlichen Vorteilen gemäss Industrie widersprechen.

Sollte immer die Technik fahren, kann zukünftig der Lokführer nicht mehr rechtzeitig eingreifen, da ihm die Erfahrungswerte für das Bremsen je nach Situation fehlen und somit ein sicheres Anhalten nicht garantiert werden. Der Lokführer ist in jedem Fall die Rückfallebene.

Ob mit dem neuen Job-Profil für den Lokführer dem eklatanten Personalmangel entgegengetreten werden kann, wird sich zeigen.

Vollautomatische Fahrt ins Wendegleis

In Hamburg wurde zusätzlich eingeführt, dass die Züge selbständig im ATO GoA Level 4 ohne Lokführer am Endbahnhof in ein Gleis fahren, um die Fahrtrichtung zu wechseln. Das ist technisch möglich und wenn das Personal in dieser Zeit anderweitig eingesetzt werden kann, ökonomisch ein Gewinn. Es bleibt zu hoffen, dass auf der Fahrt ins Wendegleis keine Reisenden im Zug verbleiben.

ATO in der Schweiz

In der Schweiz macht die SOB ATO GoA 2 Fahrten im ETCS Level 1/LS (Limited Supervision). Dort stellen sich dieselben Fragen nach dem ökonomischen Sinn.

Für weitere Informationen zu dem Thema siehe LocoFolio 1/2017, 2/2020, 1/2021 und weitere Ausgaben.

*) Dr. Peter Füglisthaler, Direktor des Bundesamtes für Verkehr BAV im LocoFolio 1/2017: Im herkömmlichen System trifft der Lokführer Entscheidungen beispielsweise in Bezug auf das Bremsverhalten eines Zugs. Wenn diese Einschätzung wegfällt, muss das vom System übernommen werden, durch längere Bremskurven etwa. Das hat zu Effizienzeinbussen bei ETCS geführt, weil die Sicherheitsreserven systematisch überall eingebaut werden mussten. Es konnte nicht mehr auf die Streckenkenntnis und die Erfahrung des Lokführers zurückgegriffen werden, bei welchen der Lokführer ja auch einen Teil des Risikos auf sich nimmt.

VSLF Nr. 698, 14. Oktober 2021, HG